Der Vorarlberger Elgar Fleisch, IT-Professor in St. Gallen und an der ETH Zürich, ist sich sicher, dass sich die Strukturen in österreichischen Unternehmen deutlich weiterentwickeln müssen, wenn die Unternehmen die Chancen der neuesten Digitalisierungsetappe nicht verschlafen wollen.
Nach der ersten Hype-Welle schien es nun einige Jahr ruhiger um das Internet der Dinge zu sein. Doch 2017 häufen sich die Konferenzen zu diesem Thema. Gibt es einen Technologiesprung zu verkünden?
Zunächst einmal steht das Internet der Dinge ja nicht für Technologien, sondern für eine Vision: dass jeder Gegenstand und jeder Ort Teil des Internets wird. Dabei wird jeder Gegenstand mit einem für Menschen oft unsichtbaren Minicomputer ausgestattet, der mittels Sensorik seinen Zustand und den Zustand seiner Umgebung vermisst und sich mit anderen sogenannten smarten Gegenständen sowie dem Internet verbindet.
Und da gibt es jetzt eine Art Durchbruch?
Die Welt der Musikindustrie oder der Werbung wurde von dieser Entwicklung ja bereits auf den Kopf gestellt. Nun erfasst das Internet der Dinge unter dem Schlagwort „Industrie 4.0“ auch immer stärker die Welt der Industrie und der physischen Dienstleistungen. IoT lädt physische Produkte mit digitalen Services auf. Oder vereinfacht gesagt: Schon jetzt können in einer Produktionsstraße die Behälter mit Beilagscheiben selbst „spüren“, wenn sie leer sind – und automatisch nachbestellen. LED-Leuchten sind nicht nur mit einem Bewegungssensor ausgestattet, sondern können auch ein Aktivitäts-Tagebuch im Internet verfassen. So mutieren die Lampen zur Alarmanlage: Wenn man das Haus verlässt, wird Anwesenheit simuliert.
„Industrie 4.0“ heißt in diesem Fall wohl auch „Freizeitindustrie 4.0“. Im Sport sind zum Beispiel vielfältige Anwendungen denkbar.
Richtig. Die Zutrittssysteme am Skilift können nicht nur dem Betreiber wertvolle Daten liefern, sondern auch dem Skifahrer nützliche Informationen aufs Smartphone schicken: Ist diese oder jene Abfahrt stark befahren? Welche Hütte ist noch nicht voll? Wie sieht es mit der Schneebeschaffenheit unten im Tal aus?
Was heißt das aber für Unternehmen?
Was man nicht messen kann, kann man auch nicht managen. Heute liefern Sensoren im Wesentlichen noch ein unscharfes, grobpixeliges Bild der Welt. Weil das Internet der Dinge aber eine feingranulare Neuvermessung der Welt ermöglicht, wird sich auch das Management ändern. Physische Prozesse werden in einem bisher ungeahnten Ausmaß beherrschbar – vom Monitoring über die Steuerung und Optimierung hin zur Autonomie.
Ihre Forschung fokussiert auf Geschäftsmodelle durch IoT, also den „Heiligen Gral“ im Zeitalter der Digitalisierung. Wo liegt das große Geschäft?
In der alten IT-Welt Mitte der 1990er Jahre ging es zum Beispiel darum, SAP einzuführen oder die neuen Möglichkeiten des Internets zu nutzen. Es ging um E-Commerce und Kundendaten, also um eine Digitalisierung der Prozesse und Abläufe und um die Etablierung von neuen Verkaufskanälen. In den Nullerjahren folgte das Web 2.0, das heißt: „Nutzer schaffen Wert.“ Crowdsourcing und Open-Source- Modelle beherrschten die Themenmatrix. Mit dem Internet der Dinge steckt die Technologie in den Produkten und Services selbst: „Die Dinge schaffen Wert.“ Was den Kunden geliefert wird, ist ein Hybrid aus Physisch und Digital.
Wie sehen hybride Geschäftsmodelle aus, wie Sie es nennen?
Bei hybriden Geschäftsmodellen geht es um Produkt- und Serviceangebote, die sowohl physische Komponenten als auch digitale Leistungen enthalten. Es entstehen neue Angebote, die die Basis eines neuen Geschäftsmodells bilden können.
Zum Beispiel?
Das physische Produkt Auto wird um ein digitales Produkt – etwa Assistenzsysteme – erweitert. Der digitale Service könnte eine digitale Fernwartung beinhalten oder Services on the road in Form eines digitalen Reiseassistenten, der Restaurants oder Hotels vorschlägt, die meinem Geschmack entsprechen.
Was bedeutet das für die großteils aus der physischen Welt kommenden österreichischen Unternehmen? Welche konkreten Folgen hat das für die Abläufe und Strukturen?
Für die digitalen Agenden wie den eigenen Webshop war in der Regel der CIO verantwortlich, der Chief Information Officer. Die Digitalisierung heute muss Sache des CEO werden. Sie betrifft das Kerngeschäft von Unternehmen und kann nicht mehr wegdelegiert werden.
Das braucht aber auch eine ganz andere Unternehmensstruktur.
So ist es. Früher hat der Produktionschef über die langhaarigen Programmierer ebenso gelacht wie der Programmierer über den engstirnigen Produktionschef. Künftig braucht es wechselseitige Wertschätzung. Nur so kann das Zusammenwachsen des physischen und des digitalen Elements gelingen. Außerdem müssen Organisationen mehr schnelle Experimente zulassen, anstatt erst nach wochenlangem Abwägen Versuchsreihen zu starten. Wer mehr Experimentierfreude erlaubt, arbeitet effizienter und billiger.
Bei einer Neustrukturierung der operativen Gremien und der Änderung des Mindsets in der Belegschaft kann es aber kaum bleiben.
Nein, das Internet der Dinge macht auch vor den Aufsichtsgremien nicht halt. Wie viele „Digital Brains“ sitzen in den Aufsichtsräten der österreichischen Top-100-Unternehmen? Solche Kriterien werden entscheidend für die Zukunftsfähigkeit des Unternehmenssektors sein.
Haben die Amerikaner wie in fast allen Digitalisierungsangelegenheiten auch hier die besseren Karten?
Das Internet der Dinge hat eigentlich in Europa begonnen. Gelingt es, diesen Wandel zu managen, gibt es ungeheure Chancen für Europas Wirtschaft. Denn bisher besteht Europas Wettbewerbsvorteil vor allem in seinen erstklassigen physischen Produkten, Sensorik, Mikroelektronik, Werkzeugmaschinen oder Autos zum Beispiel. Man braucht Elektroingenieure, Maschinenbauer, Automatisierungsexperten und Softwareentwickler. Im Bereich der digitalen Services nutzen wir in Europa aber fast ausschließlich digitale Services aus den USA wie Google, Amazon oder WhatsApp. Die entscheidende Frage ist: Schaffen es die Amerikaner, physisch schneller aufzuholen, als es die Europäer schaffen, digital durchzustarten?