„ Die Zukunft der Mobilität ist (k)eine Frage der Technologie“

Claus Doll, Leiter des Geschäftsfelds Mobilität am Fraunhofer ISI, im Gespräch über Mobilität auf Schienen.

Dr. Claus Doll ist Leiter des Geschäftsfelds Mobilität am Fraunhofer ISI.

Die LivingRAIL-Studie beschäftigt sich mit der Vision Bahn 2050 – was wird sich in den kommenden 30 Jahren ändern?

Zu unserer positiven Vision gehören die zunehmende Bedeutung nachhaltiger Lebensstile, grüne Städte, fortschreitender Pragmatismus im Umgang mit dem Pkw und kurze Innovationszyklen in der Bahnindustrie. Bahnunternehmen werden kundenorientierte Gesamtmobilitätsanbieter, und es sind qualitativ hochwertige, personalisierte Informationen allzeit verfügbar. Das Ergebnis unserer Studie ist die RAILmap 2050, wo wir Ziele für die Mobilität des Jahres 2050 und die Rolle, die Bahnen dabei spielen könnten, herausgearbeitet haben.

Inwieweit werden neue Technologien diese Vision unterstützen?

Die Zukunft der Mobilität wird nicht nur an technologischen Errungenschaften zu messen sein. Schnellere Bahnstrecken alleine bringen nicht den gewünschten Zuwachs an Fahrgästen. Es ist gleichzeitig die Verbesserung der gesamten Reisekette notwendig, zum Beispiel indem man den Regional- und Nahverkehr ausbaut oder Car- und Bikesharing integriert. Auf der Seite der Kunden werden mehr Services gefragt sein. Das können ein besseres Produktdesign sein oder ein schneller und bequemer Zugang zu Bahnhöfen. Auch die Automatisierung in allen Bereichen der Bahn und einfache Buchungsstellen für europäische Gütertransporte spielen eine Rolle. In vielen Bereichen werden die Digitalisierung und innovative Bahntechnologien diese Vorhaben unterstützen.

Was sollte die EU tun, um diese Vision voranzutreiben?

Die Europäische Kommission geht in die richtige Richtung, aber letztlich ist sie auf die Umsetzung der Mitgliedsstaaten angewiesen. Erschwerend kommt hinzu, dass das Eisenbahnwesen eine der letzten Bastionen der Nationalstaaten ist. Denn beim Zugverkehr gibt es mit sechs verschiedenen Stromsystemen und zahlreichen Spursystemen noch wahre Landesgrenzen. Und es gibt ein Infrastrukturgefälle innerhalb der EU mit Vorzeigebahnländern wie Österreich, den Niederlanden und Deutschland – aber eben auch einer Gruppe von osteuropäischen Ländern, die ihren Fokus auf die Straßeninfrastruktur legen, während der Eisenbahn notwendige Investitionen fehlen, um überhaupt wettbewerbsfähig zu werden. Zunächst muss die EU den begonnenen Reformprozess hin zu einem einheitlichen und liberalisierten Eisenbahnraum fortsetzen.

Das bedarf allerdings weitreichender Maßnahmen in alle Wirtschaftspolitikbereiche hinein.

Ja, sicher, regionale, nationale und europäische Verkehrsentwicklungspläne müssen koordiniert, regionale Gestaltungsbefugnisse gestärkt werden. Es braucht faire Preise und eine stärkere Regulierung des Straßen- und Luftverkehrs. Gleichzeitig müssen jedoch die Bahngesellschaften die Umwandlung von Staatsunternehmen zu kundenorientierten Marktakteuren schaffen.

Das klingt nach hohen Investitionskosten?

Ohne massive Investitionen in die europäischen Schienennetze werden die Ziele unerreichbar bleiben: Die Gesamt kosten für Investitionen und sonstige Maßnahmen werden für die gesamte EU von heute bis zum Jahr 2050 auf 37 bis 57 Milliarden Euro pro Jahr beziffert. Demgegenüber stünden jährlich 57 bis 71 Milliarden Euro durch erhöhte Einnahmen der Bahnen sowie zehn bis 20 Milliarden Euro durch Quersubventionierungen über Straßenbenutzungsgebühren zur Verfügung. Langfristig ist die Finanzierung aus eigenen Einnahmen der Bahnen mit geringfügiger Quersubventionierung aus Straße und Luftverkehr aber durchaus möglich.

 

LivingRAIL-Studie

Im Auftrag der Europäischen Kommission erarbeitete das Fraunhofer- Institut für System- und Innovationsforschung unter Projektleitung von Claus Doll die LivingRAIL-Studie zur Vision 2050 im Bahnverkehr. Die Endergebnisse finden sich in der RAILmap 2050 mit 62 Einzelmaßnahmen, die zum Teil größere Aktivitäten und Strategien beschreiben und zum Teil auf detaillierte Interventionen verweisen. In zahlreichen Workshops, durch Literaturrecherchen und Modellierungsarbeiten ist das Projekt LivingRAIL zu einer Reihe von Schlussfolgerungen gekommen, wie die politischen Zielvorgaben des EU-Weißbuchs 2011 erreicht werden können. Eine davon lautet: Die Bahnen werden diese enorme Aufgabe nicht allein bewältigen können. Stattdessen ist eine Neuausrichtung der Mobilitätskultur nötig, die die konsequente Umsetzung lebenswerter Stadt- und Regionalkonzepte beinhaltet.

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