Die Technologien, die die Industrie von morgen smart, flexibel und digital machen, sind kaum zu sehen, besitzen jedoch eine enorme Hebelwirkung. Innovationen der Elektro- und Elektronikindustrie bringen Industrie 4.0 erst zum Laufen.
Wenn der Wetterdienst für das kommende Frühlingswochenende strahlenden Sonnenschein und wolkenlosen Himmel voraussagt, ruft das nicht nur die Ausflugsgastronomie auf den Plan, sondern auch die Marketingverantwortlichen großer Handelsketten. Für diese ist die Wetterkarte ein idealer Anlass, um kurzfristig eine österreichweite Rabattaktion für Fensterputzmittel zu starten. Für den Lieferanten, einen führenden Hersteller von Wasch- und Reinigungsmitteln mit Produktion in Wien, bedeutet das, die Linienproduktion innerhalb von 24 Stunden von Feinwaschmitteln auf streifenfreie Fensterreiniger umzustellen. Dies ist nur mit einer volldigitalisierten Supply Chain möglich: „Die Zulieferung der Bestandteile für die Rezeptur kann just in time erfolgen, was uns eine kurzfristige Umstellung der Produktion erlaubt. Die Etiketten erreichen uns überhaupt erst eine Stunde vor der Produktion“, so der Werksleiter. Die Losgröße eins beträgt in diesem Fall zehn Tonnen Reinigungsmittel, pro Tag können somit 1.500 Tonnen produziert und ausgeliefert werden (rund 50 Lkws täglich). Das Ziel ist, bis 2030 dreimal effizienter zu produzieren.
Ortswechsel: Von der geräuschintensiven Waschmittelproduktion in einen fast lautlosen und partikelfreien Reinraum, in dem Leistungshalbleiter hergestellt werden. Die sogenannte „Ionenimplantation“ erfolgt dabei selbststeuernd. Das bedeutet: Mitarbeiter und Roboter arbeiten hier ohne Schutzgitter nebeneinander, bis zu 1.900 Produkte werden gleichzeitig in der Fabrik gefertigt. Jeder Wafer legt 15 Kilometer zurück und wird in 1.200 Einzelschritten bearbeitet, bevor er die Fertigungshalle verlässt. 800.000 Mal werden die Wafer pro Tag durch die Fabrik manövriert, die komplexe Logistik steuert sich selbst: Alle Produkte sind mit einem RFID-Chip ausgerüstet, sodass sie jederzeit in der Halle lokalisiert werden können und die Maschine erkennt, welcher Fertigungsschritt bei welchem Produkt gerade an der Reihe ist. Die Information wird in Echtzeit übermittelt.
Damit extrem effiziente, selbststeuernde Abläufe wie diese möglich werden, ist komplexe Steuerungsintelligenz notwendig. Die Technologie, die das ermöglicht, steckt in Sensoren, Hochleistungschips, kooperativen Robotern, Assistenzsystemen, RFID, Near Field Communication (NFC) und natürlich in der Software, die Prozesse virtuell abbildet und steuert: innovativer Informations- und Kommunikationstechnologie, die in den F&E-Laboren der Elektro- und Elektronikindustrie entwickelt wurde. „Unsere Industrie zählt zu den Vorreitern in Industrie-4.0-Schlüsseltechnologien, sowohl als Anwender als auch als Lösungsanbieter“, erklärt FEEI-Geschäftsführer Lothar Roitner.
Herwig Schneider vom Industriewissenschaftlichen Institut (IWI) hat sich im Auftrag des Ministeriums für Wissenschaft, Forschung und Wirtschaft genauer angesehen, welche Branchen als Innovationstreiber agieren. Das Ergebnis: die „Enabling Industry“ mit der größten Hebelwirkung sind die Elektro- und Elektronikunternehmen, gefolgt von Maschinen- und Anlagenbauern. Zu den wichtigsten Abnehmern zählen die Fahrzeugindustrie, die chemische Industrie und die Landwirtschaft.
Auch eine Umfrage des Beratungsunternehmens PwC bestätigt die Pionierkraft der Elektro- und Elektronikindustrie als einer der innovativsten Branchen in Österreich. Die Befragung von 100 österreichischen Industrieunternehmen kommt zu dem Ergebnis, dass diese in den kommenden fünf Jahren Investitionen von durchschnittlich 3,8 Prozent des Jahresumsatzes in Industrie-4.0-Lösungen tätigen werden – in Summe stolze vier Milliarden Euro. Überdurchschnittlich viel wird demnach die Elektro- und Elektronikindustrie (4,5 Prozent oder 0,7 Milliarden Euro im Jahr) für digitalisierte Prozesse in die Hand nehmen, ebenso die Maschinenbauindustrie (4,3 Prozent).
Während der Maschinen- und Anlagenbau seine Investitionen insbesondere auf Produkte und Dienstleistungen für eine flexible, echtzeitnahe Produktionsplanung und -steuerung sowie auf die Automatisierung konzentriert, setzt die Elektrotechnik- und Elektronikindustrie die Schwerpunkte auf die Optimierung von Planungsprozessen und eingebetteten Systemen in der Produktion. Auch die Überprüfung der Performance mithilfe von Echtzeitdaten von Zustandsinformationen und vernetzten Sensoren im Servicebereich spielt in unserer Industrie eine große Rolle. Die smarten Technologien dafür liefert großteils die Elektro- und Elektronikindustrie, die somit eine Doppelrolle sowohl als Anwender als auch als Hersteller von „Industrie 4.0“ innehat.
Die Anzahl der hochdigitalisierten Unternehmen, also der Unternehmen mit einem hohen Anteil an digitalisierten Produkten, Prozessen und Services, soll sich laut PwC in den nächsten fünf Jahren mehr als verdreifachen. Insbesondere in der Elektro- und Elektronikindustrie werden 93 Prozent der Unternehmen ihre Wertschöpfungsketten hochgradig digitalisiert haben. Bis 2020 sollen 85 Prozent der Industrieunternehmen nachgezogen haben – und, dank zu erwartender Effizienzsteigerungen und sinkender Herstellungskosten, daraus drei Milliarden Euro zusätzlichen Umsatz pro Jahr erwirtschaften.
Der Wandel wird extrem rapide vonstattengehen. „Obwohl es vielen Unternehmern bereits klar ist, dass sie sich mit der Digitalisierung auseinandersetzen müssen, sucht man großteils noch nach Orientierung“, so Roland Sommer, Geschäftsführer der Plattform Industrie 4.0 Österreich. „Eine meiner wichtigsten Aufgaben ist es also, Ängste zu nehmen.“
Für Lothar Roitner ist es wesentlich, den Vorsprung, den Österreich dank hochinnovativer Industrieunternehmen hat, nicht zu verspielen. „Die rasche Implementierung digitaler Elemente schafft Wettbewerbsvorteile, das hat im Wesentlichen auch die Politik erkannt. Industrie 4.0 ist die Chance, den Kreislauf zu durchbrechen und über Forschung und Entwicklung auch die Produktion am Standort zu halten, im Idealfall sogar zurückzuholen.“